10.10.2008 von Matthias Meili
Es muss ein Unmensch sein, wer im Schwein
nur das Kotelett sieht. Nicht einmal der Direktor eines Schlachthofes
wünscht den Tieren Böses. «Wenn diese Lebewesen schon sterben müssen»,
sagt Urs Kunz, Inhaber eines Schlachthofes in der Zentralschweiz,
«unternehmen wir alles, um den Tieren einen vollständig schonenden und
feinfühligen Umgang zu gewähren. Die Betäubung muss kurz und schmerzlos
sein.» In seinem Betrieb werden vor allem Schweine geschlachtet, aber
auch Rinder und Kälber, Hunderte pro Woche, Tausende im Monat,
Abertausende im Jahr, um den Heisshunger der Konsumenten in der Schweiz
auf Koteletts, Steaks, Nierstücke, Geschnetzeltes, Gehacktes und
Gebratenes zu stillen.
Mastschweine werden heute mittels modernster Computertechnologie
einzeln gefüttert, weil sie sehr futterneidisch sind. Sie tragen ein
Band mit einem Chip um den Hals, der am Eingang der Futterstation
abgelesen wird. Kommt das Schwein mit dem Chip in die Nähe der Station,
öffnet sich die Tür automatisch, und die vom Computer errechnete
Futtermenge wird ausgeschüttet. Die Tür fällt gleich hinter dem Schwein
wieder ins Schloss, damit kein zweites Tier an den Futtertrog gelangt.
Einige Tiere erreichen in ihrem kurzen Leben – Mastschweine werden
durchschnittlich sechs Monate lang gemästet und dann geschlachtet –
jedoch erstaunliche Fähigkeiten: Sie begreifen, dass ihnen der Chip
Zugang verschaffen kann. Wenn sie ein Halsband auf dem Boden
herumliegen sehen, nehmen sie es ins Maul und gehen zur Futterstation.
So ausgerüstet, profitieren diese Tiere von einer doppelten Ration
Futter.
Diese Geschichte erzählt die 61-jährige Tierforscherin Temple Grandin,
die an Autismus leidet, in ihrem Buch «Ich sehe die Welt wie ein frohes
Tier». Schweine können offensichtlich Schlussfolgerungen ziehen,
zielgerichtet vorgehen und sehr egoistisch handeln – wie es viele
Menschen auch tun. Der Unterschied ist, dass Millionen Schweine zu
Wurst und Koteletts gemacht werden. Die Nutzung vieler Tierarten durch
die Menschen hat eine lange Tradition. Der Schweizer Philosoph Urs
Thurnherr spricht von einem parasitären Verhältnis der Menschen zum
Tier, weil der Mensch vom Vieh lebe, ohne dass das Vieh selber etwas
davon habe.
Die eigensüchtige Nutzung ist zwar nicht einzigartig in der Natur:
Jeder Tiger, der eine Antilope reisst, tötet eine andere Art, um nicht
zu verhungern. Der Kuckuck betrügt den Fink und legt ihm ein Ei ins
Nest, damit dieser sein Küken statt der eigenen Jungen hege und pflege.
Blattkäferlarven lassen sich von Ameisen in deren Bau tragen und
verspeisen später zum Dank die kleinen Ameisenlarven. Doch der Mensch
ist das einzige Wesen, das über sein Tun Rechenschaft abgeben kann und
soll. Tut er das auch? Was essen wir eigentlich, wie nehmen wir Tiere
wahr? Und nehmen die Nutztiere uns wahr, denken sie nach, fühlen sie
sogar Liebe, empfinden sie Abscheu vor dem, was wir ihnen antun?
Die Schlachthofdirektoren zumindest scheinen, gefragt, ob man ihnen
einen Besuch abstatten dürfe, wie in die Enge getrieben. Sie reagieren
mit Nervosität, Ablehnung, vielleicht auch mit einem schlechten
Gewissen. Als verlange man von ihnen eine moralische Legitimation für
ihr berufliches Tun. Einer der grössten Schlachthöfe der Schweiz, auf
dem laut eigener Statistik jährlich 237 000 Schweine und fast 100 000
Rinder und Kälber getötet werden, liegt mitten in Zürich. Frei nach dem
Motto «Wir leben Zürich» gibt die Stadt auf ihrer Homepage zwar vor,
die Öffentlichkeit nicht zu scheuen und gibt sich sehr modern: «Wie
kommt das Fleisch auf den Teller? Wie wird das Rind zum Hamburger?
Ein Besuch im Schlachthof Zürich ist in jedem Fall ein Erlebnis.» Doch
die Anfrage wird vom Direktor rundweg abgelehnt mit dem dürftigen
Verweis auf einen Entscheid des Verwaltungsrates. Ähnlich redet sich
der Direktor des Schlachthofes St. Gallen heraus.
Entgegenkommen schliesslich im Schlachthof in Sursee. Der Direktor lädt
zu einem Treffen. Dort allerdings, in einem kahlen, fensterlosen Raum,
muss erst eine lange Liste von Bedingungen und Abmachungen
unterschrieben werden, die während und nach einem Besuch einzuhalten
sind. Trotz dem Einverständnis mit allem verweigert sich der
Schlachthofdirektor fortan kommentarlos jedem weiteren Ersuchen.
Ergiebiger ist dagegen der Besuch auf einem Landwirtschaftsbetrieb in
der Umgebung von Bern. Zusammen mit Michèle Bodmer, Tierärztin und
selber auf einem Bauernhof in der Innerschweiz aufgewachsen, gehts vor
Sonnenaufgang los, um das Wesen von Nutztieren besser kennenzulernen.
Die Tierärztin arbeitet für ein Programm, das sich Bestandesmedizin
nennt und von der Wiederkäuerklinik der Tiermedizin an der Uni Bern
geleitet wird. Alle vierzehn Tage fährt die Fachfrau nach genauem Plan
zu den Bauern, die mit den Verantwortlichen der Wiederkäuerklinik einen
entsprechenden Vertrag abgeschlossen haben. Ziel ist es, mögliche
Krankheiten der Kühe frühzeitig zu erkennen, vor allem Störungen, die
den Fortpflanzungserfolg stören könnten. «Es geht eigentlich immer um
die Fruchtbarkeit der Tiere, denn wenn sie nicht aufnehmen, gibt es
Verluste», sagt Michèle Bodmer. Die Tierärztin prüft die Eierstöcke mit
ihren flinken Händen, die in Plastikhandschuhen stecken. Danach leert
sie den Darm der Kuh, manchmal führt sie ihr auch eine Ultraschallsonde
ein. Alle einundzwanzig Tage wird eine Kuh stierig. Dann sollte der
Bauer den Besamer rufen. Manchmal, wenn der künstliche Besamer nichts
nützt, hilft der traditionelle Natursprung. Denn auch Kühe brauchen
etwas Stimmung.
Schimpansenmathematik
Vielleicht sind wir uns gar nicht bewusst, wie unanständig es ist, ohne
Anklopfen in einen Kuhstall zu treten. Bauer Jürg Hänni begrüsst
höflich die Tierärztin, und sie sprechen über ein Tier in der Herde.
Eine andere Kuh, Samira, mit ihren zehn Jahren weit über dem
Durchschnitt einer Schweizer Kuh, Rasse Braunvieh, dreht sofort ihren
Kopf und schaut nicht zum Bauern und nicht zur Tierärztin, nein, sie
blickt neugierig und fragend dem unbekannten Besucher direkt ins
Gesicht. Eine Minute lang, zwei, vielleicht sogar drei Minuten. Dann
leckt sie sich mit der grossen Zunge übers Maul, über die grossen
braunen Lippen und wendet sich wieder dem Futter zu. Die Besprechung
von Tierärztin und Bauer nimmt kein Ende. Samira verrichtet ihre
Notdurft in hohem Bogen, natürlich ohne nach hinten zu schauen – wer
nichts abbekommen will, muss einen Satz zur Seite machen. Jetzt tritt
der Lehrling dazu, auch ihn würdigt Samira keines Blickes. Doch
plötzlich wendet sie nochmals ihren schlanken Hals, prüft den Fremden
erneut mit kritischem Blick, als müsste sie noch genauer schauen, den
Kopf nun etwas tiefer gebeugt, die grossen braunen Augen in sich
ruhend. Samira ist eine gutmütige Kuh, erzählt die Bäuerin, ein Tier,
das sich auffällig unauffällig verhalte. Sie ist kein Rüpel, aber auch
nicht eine, die schreckhaft und scheu sei. In der Hierarchie der
Kuhherde befinde sie sich im oberen Drittel, aber nicht zuoberst. Sie
schubst ihre Kolleginnen nicht herum, frisst gerne das schöne Gras,
aber tut dies doch nicht unter dem Zaun hindurch. Beim Melken steht sie
ruhig, aber nicht starr. Vielleicht ist sie deshalb schon so lange im
Stall, Jahre länger als der schweizerische Durchschnitt, der bei fünf
Jahren liegt. Doch selbst Samira wird am Ende der Schlachthof blühen.
«Ich ertrage das schwer», sagt Bäuerin Elisabeth Hänni, «ich bin nie
da, wenn eine Kuh abgeführt wird. Aber es gehört halt zu unserem Leben.»
Die Erkenntnisse der Tierpsychologie, der Verhaltensforschung und der
Neurowissenschaften führen dazu, dass unsere Mitlebewesen immer näher
an uns heranrücken – die Geschuppten, Gefiederten, die Vierbeinigen und
auch die Zweibeinigen: Schimpansen, die rechnen und sich in
Blindensprache ausdrücken können; Raben, die ihre Artgenossen
überlisten; Ratten, die lachen und möglicherweise sogar so etwas wie
Mitleid empfinden. Jedes Mal, wenn man glaubte, die Grenze zwischen
Mensch und Tier endlich gezogen zu haben, kam eine andere Art daher und
zeigte neue Verhaltensähnlichkeiten mit dem Menschen: Es gibt
Schimpansen, die Bandenkriege austragen und sich aufs Blut bekämpfen;
man hat Delfine beobachtet, die Massenvergewaltigungen bege¬hen, und
Gangs von süss dreinschauenden Tümmlern, die Delfinkälber morden –
grundlos.
Eines ist klar, Tiere sind mehr als Fress- und Gebärmaschinen. Sie sind
schlau: Berühmtheit für seine mentalen Fähigkeiten erlangte etwa der
Hund Rico, der in der Sendung «Wetten, dass…?» 1999 vor laufender
Kamera siebenundsiebzig Plüsch- und Plastiktiere auseinanderhalten
konnte. Darüber hinaus wusste er exakt das entsprechende Spielzeug zu
apportieren, dessen Namen ihm seine Meisterin nannte. Ricos Fähigkeiten
waren so erstaunlich, dass er später Karriere in der Wissenschaft
¬machte. Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre
Anthropologie in Leipzig nahmen den Border-Collie unter ihre Fittiche
und brachten dem Tier neue Dinge bei, die es ebenfalls spielend lernte.
Es gelang ihm, die richtigen Begriffe den richtigen Gegenständen
zuzuordnen, eine Leistung, die gemäss den Forschern eine «reife,
eigenständige Denkleistung» sei und auf logischen Operationen im Kopf
beruhen müsste. Zuletzt schaffte es Rico 2002 sogar ins
Wissenschaftsmagazin «Science», weil er zweihundert Wörter
unterscheiden konnte. Er übertraf damit sogar das Vokabular von
trainierten Affen, Delfinen, Seelöwen und Papageien.
Präriehunde kennen Verben
Tiere reagieren spontan auf Neues: Aufsehen erregte eine Studie des
Verhaltensökologen Alex Kacelnik mit neukaledonischen Krähen, welche
die Fähigkeit haben, Werkzeuge herzustellen. Im Versuch zeigte sich,
dass die Tiere dabei sogar zu Innovationen in der Lage waren. Kacelnik
wollte ursprünglich nur herausfinden, ob die beiden Krähen Betty und
Abel einen hakenförmigen oder einen geraden Draht benutzen, um Futter
aus einer Tube zu klauben. Kurze Zeit später klaute die dominantere
Krähe Abel der submissiven Betty den für diesen Zweck besser
geeigneten hakenförmigen Draht. Als Betty merkte, dass sie mit dem
geraden Stück nicht so schnell ans Futter kam, bog sie sich den Draht
selbst zurecht. Sie optimierte dabei sogar die Krümmung des Drahtes.
Eine derartige Lernfähigkeit hatte man zuvor noch nicht einmal bei
Schimpansen beobachtet.
Tiere reden miteinander: Con Slobodchikoff, ein amerikanischer
Verhaltensforscher von der Northern Arizona University, hat – ebenfalls
2002 – eine Arbeit über das Kommunikationsverhalten von Präriehunden
veröffentlicht. Er entdeckte, dass sich diese scheuen Tiere miteinander
über ihre Fressfeinde unterhalten und dabei ein Kommunikationssystem
benutzen, das Substantive, Verben und Adjektive enthält. Die Tiere, die
in ihrer Umgebung vielen Räubern wie Steinadlern, Kojoten, Bussarden,
Füchsen, aber auch Menschen ausgesetzt sind, warnten sich gegenseitig
mit unterschiedlichen Lauten, je nachdem, welcher Räuber angriff.
Wahrscheinlich muss man sich das so vorstellen: «Hey Guys, es ist nur
ein alter Mäusebussard – Alarmstufe hell-orange!»
Und Tiere sind liebesbedürftig: Sie haben ein reiches soziales Leben
und benötigen Bindungen. Dass bei ihnen Wohligkeit vor dem Fressen
kommt, bewies der amerikanische Verhaltensforscher Harry Harlow bereits
in den Sechzigerjahren in seinen Versuchen mit Rhesusaffen. Er wollte
wissen, ob Affenbabys eine milchspendende Mutterattrappe aus Draht oder
eine aus weichem Stoff bevorzugten. Die Resultate waren recht
eindeutig. Alle Affenbabys kuschelten sich an die Stoffattrappe, selbst
wenn aus der Drahtattrappe Muttermilch kam. Harlow zeigte in weiteren
Experimenten, die heute schon aus Tierschutzgründen nicht mehr möglich
wären, auf, dass isoliert aufwachsende Affenbabys später stark
verhaltensgestört waren.
Auch unsere Nutztiere sind Lebewesen mit einem vielfältigen
Sozialleben, mit komplexen Emotionen und ausgereiften kognitiven
Fähigkeiten. Rinder haben nicht nur strenge Hierarchien, sie bilden
auch Freundschaften, sie sind sehr neugierig und zugleich schnell
ängstlich. Schweine verhalten sich immer noch wie Wildschweine, wenn
man sie freilässt, sie spielen gern und unterhalten verschiedenste
soziale Bindungen zu den Tieren ihrer Gruppe. Und Schafe sind
vielleicht zwar nicht besonders clever, nichtsdestotrotz sind sie sehr
emotional und hassen nichts so sehr, wie von der Herde isoliert zu
werden. Hühner sind ausgesprochen feinfühlige Tiere, mit strengen
Hierarchien und einer oft empfindlichen, nervösen Psyche – die weissen,
hochgezüchteten Legehennen-Rassen noch mehr als die etwas ruhigeren
braunen Legehennen. Entscheidend ist jeweils das artspezifische Erbe:
Die Wiederkäuer etwa sind klassische Beutetiere, sie lebten in Herden,
waren immer auf der Hut und mussten sich dennoch die besten Plätzchen
suchen (vermutlich sind sie deshalb so neugierig). Doch wie merkt man,
dass es einem heutigen Huhn, einem modernen Rind, einer Geiss oder
einem Schaf in seiner Umgebung – meist ein Stall auf einem Bauernhof –
wohl zumute ist? In den vergangenen vierzig Jahren etwa ist die
Rinderzucht derart schnell vorangeschritten, dass sich die
Milchleistung einer modernen Hochleistungskuh auf 10’000 Liter im Jahr
verdoppelt hat.
«Ein zeitgemässer Tierschutz orientiert sich heute nicht mehr nur an
Gesundheit und Leidensfreiheit der Tiere, sondern muss das Wohlbefinden
ins Zentrum rücken», sagt Lorenz Gygax. «Angesichts des
wirtschaftlichen Drucks ist das den Bauern manchmal schwer zu
erklären.» Gygax ist Verhaltensforscher und Statistiker am Zentrum für
tiergerechte Haltung an der Forschungsanstalt Agroscope
Reckenholz-Tänikon. Tänikon liegt im Hinterthurgau, weit weg von den
grossen Hochschulen des Landes. Die Büros der Forscher sind auf dem
Gelände eines ehemaligen Nonnen-Klosters errichtet worden, die
Stallungen der Tiere – Schafe, Schweine, Rinder, manchmal auch Ziegen –
sind im Gutsbetrieb auf der anderen Strassenseite. Stille herrscht auf
dem kleinen Friedhof vor der mittelalterlichen Klosterkirche. Dann
lässt der Gärtner den Rasenmäher aufheulen. Höchste Zeit, sich am
Zentrum etwas umzusehen.
Wie misst man ihren Schmerz?
Die Versuchsanlage der Schafe in Tänikon befindet sich im hinteren Teil
der Stallungen. Hier haben Gygax und seine Mitarbeiterinnen vor Kurzem
einen Versuch abgeschlossen, in dem sie die positiven und negativen
Gefühle von Schafen wissenschaftlich erfassten. «Die Emotionen von
Tieren zu messen ist unglaublich schwierig», sagt Gygax. «Denn sie
erzählen uns ja nichts davon.» Zwar ist die Intensität einer Erregung
anhand von Messgrössen wie dem Ausstoss von Stresshormonen oder der
Herzfrequenz noch erfassbar, doch nur schon bei der Entscheidung, ob es
sich um positive (Wohlbefinden, Freude) oder negative Gefühle
(Unwohlsein, Angst, Schmerz) handelt, wird es schwierig. Beutetieren,
wie Schafe oder Rinder, merkt man unter Umständen selbst grössten
Schmerz nicht an – ein Verhalten, das im evolutionsgeschichtlichen Erbe
der Art verborgen ist, weil früher jede Auffälligkeit in der Herde das
Ende eines Individuums bedeuten konnte.
Lorenz Gygax und seine Mitarbeiterinnen suchten nach Kriterien, die das
Wohlbefinden der Tiere zum Beispiel in verschiedenen Haltungssystemen
objektiv wiedergeben. Dafür wurden sechzehn Schafe während der
Fütterung einer neutralen, einer positiven und einer negativen
emotionalen Situation ausgesetzt: Sie bekamen einmal normales Futter,
einmal das von ihnen heiss geliebte trockene Weissbrot, schliesslich
geschmacklose Holzpellets. Als Kriterien wurde die Kombination von
physiologischen Messwerten (Herzfrequenz, Atemfrequenz) mit
Verhaltensmerkmalen (Ohr- und Schwanzbewegungen) gewählt. Mit Hilfe
eines automatischen Kamera-Erfassungssystems wurden die Ohr- und
Schwanzstellungen der Versuchsschafe festgehalten. Die Auswertungen
ergaben, dass sich ein negativer Gefühlszustand deutlich durch viele
Ohrbewegungen, zusammen mit einer höheren Herz- und Atemfrequenz
auszeichnete. Es war jedoch nicht möglich, den «erfreuten»
Gefühlszustand vom neutralen Zustand zu unterscheiden. «Positive
Emotionen sind offenbar schwieriger zu erfassen», sagt Gygax,
«vielleicht auch deshalb, weil die einzelnen Tiere positive
Gefühlslagen unterschiedlicher ausdrücken als die negativen. Dies
ergibt Sinn, denn in negativen Situationen – bei Angst, Gefahr, Flucht
– ist eine klare und eindeutige Strategie gefragt.»
«Das Kreuz in der wissenschaftlichen Verhaltensforschung ist», sagt
Lorenz Gygax am Ausgang des Klosters, «dass wir mit unseren
statistischen Methoden durchschnittliche Reaktionen der Tiere erfassen.
Tiere, die anders oder auch nur extrem empfindlich reagieren, gehen in
der Masse der Daten unter.» Die meisten seiner Versuchsschafe etwa
waren völlig verrückt nach dem angereicherten Futter, so wie es die
Versuchsanordnung auch vorsah. Eines der Schafe jedoch – und sie
wüssten nach wie vor nicht wieso – sei immer wie wild auf die faden
Holzpellets losgegangen, habe mit allen physiologisch und
verhaltensmässig erdenklichen Signalen der Freude reagiert, wo sich die
«normalen» Schafe bloss abgewendet hätten.
Die Geschichte der Emotionsforschung bei Tieren bewegte sich schon
immer zwischen Anekdoten und streng kontrollierten Laborversuchen. Und
sie ist gekennzeichnet von etlichen Paradigmenwechsel. Vor
hundertfünfzig Jahren gehörte die Beschreibung von tierischen Gefühlen
zu einer anerkannten Teildisziplin der Psychologie. Auch Charles Darwin
widmete seinem Werk «Der Ausdruck von Emotionen im Mensch und im Tier»
viel Zeit und Energie, in dem er seine Beobachtungen präzise beschrieb.
Doch bald sahen die Forscher ein, dass der Weg der Beobachtung allein
in eine intellektuelle Sackgasse führt. Man konnte dem Wesen der Tiere
einfach nicht gerecht werden, wenn man ihre Gefühle und
Verhaltensweisen nur nach dem Referenzsystem menschlicher Erfahrungen
beschrieb. Prompt tauchte die Gegenbewegung des Behaviourismus auf, vor
allem vertreten durch den amerikanischen Psychologen B. F. Skinner. Er
bezeichnete die mentalen Zustände als Blackbox, die nicht mit redlichen
wissenschaftlichen Mitteln geöffnet werden könnte. Die Wahrheit lag
seiner Meinung nach nur in streng kontrollierten
Reiz-Reaktions-Experimenten unter Laborbedingungen. Feldbeobachtungen
galten fortan als unwissenschaftlich. Das Tier als Subjekt mit mentalen
oder gar emotionalen Zuständen war in diesem Weltbild schlicht und
einfach nicht vorgesehen.
Der lesende Schimpanse
Etwa in den Sechzigerjahren setzte eine Gegenbewegung ein;
charakteristisch für sie ist ein Diktum des promi¬nenten
Harvard-Zoologen Donald Griffin. Er warf dem rigiden Gedankengebäude
der Behaviouristen vor, dass die «Vorstellung, dass sich alle Tiere in
einem Zustand ähnlich einem menschlichen Schlafwandler bewegen würden,
auch eine Art negativer Dogmatismus» sei. Seine Forscherkollegen
forderte er auf zu akzeptieren, dass Tiere auch Gedanken und Gefühle
hätten. Manche Wissenschaftsphilosophen glauben, dass der
gesellschaftliche Aufbruch der 68er-Bewegung und die grössere Zahl von
Frauen in der Forschung erst diese Neubewertung der subjektiven
Erfahrung bewirkten. Erst jetzt waren Beobachtungen an einzelnen Tieren
wieder statthaft, und Berichte vom lesenden Schimpansen Washoe oder vom
sprechenden Papagei Alex erhielten die Bedeutung, die ihnen zusteht.
Bezeichnend für diesen Paradigmenwechsel ist auch der mit Enthusiasmus
aufgenommene Essayband der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren mit dem
Titel «Auch meine Kuh will Spass haben».
Es waren dann aber vor allem die Neurowissenschaften, die zu
wesentlichen Einsichten und neuen Erkenntnisse führten. Emotionen
gelten demnach als mehrheitlich unbewusst ablaufende Prozesse in
bestimmten Teilen des Zentralnervensystems, die eine körperliche
Reaktion auslösen können und für das Überleben unerlässlich sind. Es
gibt verschiedene Hirnareale, vor allem das limbische System, in denen
Emotionen hauptsächlich gesteuert werden – meistens sind es
evolutionsgeschichtlich ältere Teile des Kleinhirns wie der Hippocampus
oder die Amygdala. Man unterscheidet heute zwischen den vier
Basis-emotionen Wut, Jagdtrieb, Angst und Neugier und der damit
verbundenen Vorfreude. Aber auch soziale Gefühle kennen die Tiere, die
jedoch schwieriger zu bestimmen und voneinander abzugrenzen sind. Dazu
gehören sexuelle Anziehung und Lust, Trennungsschmerz von Mutter und
Kind, die soziale Bindung und die Freude am Spielen und Herumbalgen.
Beim Menschen laufen die gleichen Emotionen ab, doch im Unterschied zu
den meisten Tieren hat sich beim Menschen eine riesige Grosshirnrinde
entwickelt – der Neocortex –, in der diese Emotionen bewusst erlebt,
aber auch unterdrückt oder verdrängt werden können. Tiere erleben also
mit Sicherheit Emotionen, aber sie erleben sie wahrscheinlich anders
als der Mensch.
Die Erkenntnisse aus der Verhaltens- und Emotionsforschung zeigen: Ein
auf das Wohlbefinden ausgerichteter Tierschutz, der den Nutztieren ein
glückliches Leben gewährt, ist heute Verpflichtung, selbst wenn dies
mehr Anstrengungen bedarf als das bis vor Kurzem geltende
Tierschutzdogma, wonach vor allem das Leiden vermindert werden sollte.
Natürlich geht ein solcher Wechsel nicht immer zur Freude der Bauern
vonstatten. Die Reaktion des Schweizerischen Bauernverbandes auf die
neue Tierschutzverordnung, die seit September in Kraft ist, spricht
Bände: «Das verschärfte Tierschutzgesetz kostet viel Geld», war die
Schlagzeile im «Schweizer Bauer». In vielen Anbindeställen etwa finden
sich noch die berüchtigten Kuhtrainer. Elektrisch geladene Leisten, die
dem Tier einen Stromschlag verpassen, sobald es seinen Rücken beugt, um
seine Notdurft zu verrichten – eine Vorrichtung, die von
Tierschutzexperten als eindeutig nicht tiergerecht eingestuft wird. Und
obwohl zum Beispiel Forscher aus Tänikon hieb- und stichfest bewiesen
haben, dass es den Mastmunis bedeutend wohler wäre, wenn sie ihr Leben
im Stall auf 3,5 Quadratmetern statt 2,5 Quadratmetern pro Tier fristen
könnten, bessere Fleischleistung bringen sie dadurch nicht. Prompt
bekämpften die Mastbauern eine entsprechende Umsetzung in der
Tierschutzverordnung heftig und verhinderten die volle
Flächenanpassung. Gemäss der neuen Regelung muss ein Mastmuni in seinem
kurzen Leben mindestens 3 Quadratmeter zur Verfügung haben.
Der Fürsorge folgt Tod
Nur menschliche Monster, so behauptet dagegen der radikale
österreichische Tierrechtsphilosoph Henri Kaplan, können die Idee einer
«humanen» Fleischproduktion entworfen haben. Wer sonst, wenn nicht ein
wahres Ungeheuer, umsorge ein geliebtes Wesen, nur um es am Schluss
doch zu schlachten und zu essen? (Noch schrecklicher könne nur noch die
milliardenfach praktizierte Vergasung von männlichen Küken sein, die –
bloss weil sie keine Eier legen – einfach Abfall sind.) Wir Menschen,
lautet der Vorwurf von Kaplan, würden uns dem neuen art- und
tiergerechten Tierschutzdogma folgend so verhalten wie jemand, der
seine Kinder in grosser Liebe aufzieht, mit allen Mitteln dafür Sorge
trägt, dass es ihnen an nichts fehlt und sie eine sorgenfreie,
glückliche Kindheit haben – um sie dann, sobald sie ein bestimmtes
Gewicht erlangt haben, umzubringen.
Die Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken ist seit Jahrhunderten Kern
der Auseinandersetzungen einer ganzen Anzahl von Philosophen und
Tierethikern. In der Alltagsmoral wird die Verwendung von Tieren –
meist mit Verweis darauf, dass es die Natur ja genauso mache – zwar
nicht infrage gestellt. Sie folgt im Prinzip den Ideen des deutschen
Philosophen Immanuel Kant, gemäss dem die Tiere den Menschen als Mittel
zum Zweck zur Verfügung stünden, was aber nicht heisst, dass man sie
leiden lassen dürfe. Kant bildet die Grundlage des geläufigen
pathozentrischen Tierschutzes. Spätere Denker haben jedoch das
Kriterium des Selbstbewusstseins eines Lebewesens ins Zentrum gerückt.
So etwa der australische Philosoph Peter Singer, aber auch der
amerikanische Tierethiker Tom Regan, der vom Menschen eine streng
vegetarische Lebensweise fordert. Tiere, die einen vernünftigen
Lebensplan, eine Art Bewusstsein ihrer selbst sowie der Zeitachse und
eine Vorstellung vom Tod haben (könnten), müssten danach geschützt
werden, ebenso sehr, wie es ein Menschenleben zu schützen gelte.
Bäuerin Elisabeth Hänni ist überzeugt, dass es ihre Kühe wahrnehmen,
wenn der Viehhändler kommt. «Sie sind nervös, merken, dass etwas anders
ist und wehren sich manchmal wie verrückt gegen das Einladen.»
Andererseits schere die Tiere, die zurückbleiben, das Ganze gar nicht,
hat die Bäuerin festgestellt. Diese würden nicht realisieren, dass eine
Kuh fehlt. Auch die Herde als Ganzes sei deswegen nicht nervöser oder
aber ruhiger. Dass aber die Tiere, die weggebracht werden, aufgeregt
sind, hat auch Anet Spengler, Tierhaltungsexpertin am
Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick,
beobachtet. «Allerdings ist es eher das Neue, das Ungewohnte,
Unerwartete und in vielen Fällen der erstmalige nahe Kontakt mit
Menschen, der sie erschreckt», sagt Spengler. «Die Tiere haben in
solchen Momenten extremen Stress, sie schütten Hormone wie wild aus.
Das schlägt sich dann natürlich auch auf die Fleischqualität nieder.»
Dass dem so ist, konnten Anet Spengler und ihre Mitarbeiterin Johanna
Probst kürzlich in einem Versuch zeigen, in dem sie Mastmunis rund
einen Monat vor der Schlachtung besuchten und auf den Kontakt mit
Menschen vorbereiteten. Sie gingen zu den Tieren an den Fressplatz,
streichelten und kraulten sie mehrmals vier Minuten lang hinter den
Ohren – ganz wie es das Tier am liebsten mochte. Tatsächlich zeigte
sich, dass derartig vorbereitete Tiere am Tag der Schlachtung nicht so
verschreckt waren, weniger Stress anzeigende Parameter im Blut hatten
und bessere Fleischqualität lieferten. Das Schlimmste für diese
sozialen Tiere ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sie von der Herde
getrennt, mit völlig anderen Kühen transportiert und von fremden
Menschen herumdirigiert werden. Um diesen Stress zu vermeiden, gäbe es
eine einfache Lösung, die in EU-Staaten zum Teil angewandt wird: Der
angenehmste, schnellste und schmerzfreieste – kurz: der tiergerechteste
– Tod für ein Rind ¬wäre, wenn es auf der Weide bei der Herde
geschossen werden könnte. Dieses Vorgehen ist in der Schweiz jedoch
verboten – aus fleischhygienischen Gründen. Paradox ist: Beim
Gehegewild ist dieses «tierfreundliche» Verfahren sogar vorgeschrieben.
Dass Nutztiere eine klare Vorstellung vom Tod und ihrem bevorstehenden
Ende haben, konnte bisher noch nicht bewiesen werden. Diese Frage
bleibt offen, so wie es nach wie vor schwierig ist, die Emotionen und
Gedanken von Tieren zu verstehen und zu beschreiben. Doch bis diese
bewiesen werden können, wäre es sicher nicht das Schlechteste, erst
einmal von deren Existenz auszugehen. Und den Tieren ein möglichst
verträgliches Leben und Sterben zu gewähren.
Herzlicher Dank gilt dem aus der Bündner Gemeinde Schlans stammenden Bio-Bergbauern Silvio Pfister, der die hier abgebildeten Tiere organisiert und zur Verfügung gestellt hat.